Ralf Rangnicks Plan für Salzburg – und wie daraus ein Versprechen wurde
Wenn ich heute über Salzburg schreibe, dann beginne ich immer bei Ralf Rangnick. Nicht, weil er der erste Sportdirektor mit großen Worten war, sondern weil er der erste war, der eine echte Idee brachte. Eine, die größer war als ein Trainer, größer als eine Saison.
Sein Konzept war radikal, fast revolutionär für den österreichischen Fußball: jung, schnell, aggressiv. Kein Ballbesitz-Selbstzweck, sondern Zielstrebigkeit. Kein Sicherheitsdenken, sondern Mut. Kein Ausruhen auf Qualität, sondern Dauerlauf im Hochdruckmodus.
Rangnick sah Fußball als System – und Salzburg als Versuchslabor. Vier Prinzipien bildeten das Rückgrat:
- Hohes, koordiniertes Pressing.
- Sofortiges Gegenpressing nach Ballverlust.
- Vertikalität als oberste Prämisse.
- Dominanz – nicht reagieren, sondern diktieren.
Ich erinnere mich an die ersten Jahre, in denen diese Idee spürbar wurde: Das Stadion vibrierte. Man konnte in der Red Bull Arena fast hören, wie die Räume kleiner wurden, wenn der Gegner in Ballbesitz kam. Diese Energie war Salzburgs Markenzeichen. Und sie war nicht zufällig – sie war geplant, durchgetaktet, von Rangnick konstruiert.
Doch was einmal als Versprechen begann, droht sich heute in Routine zu verwandeln. Denn irgendwo zwischen der Philosophie und dem Pragmatismus ist der Kern dieser Idee verblasst.
Roger Schmidt (2012–2014): Der Erfinder des „Vollgasfußballs“
Schmidt war der erste, der Rangnicks Theorie in Bewegung brachte. Ich erinnere mich noch genau: Die Mannschaft war ein Pressing-Orkan. Es gab kein Warten, kein Reagieren – alles war offensiv gedacht. Ein 4-2-2-2 mit engen Offensivspielern im Halbraum, schnellem Umschalten, fast schon hyperaktiver Energie.
Alan und Soriano vorne, Kampl und Mané dahinter – das war keine Formation, das war ein Motor. Der Gegner wurde erstickt, lange Bälle provoziert, Ballgewinne sofort vertikal verarbeitet.
Für mich als Fan war das pure Faszination. Gleichzeitig auch ein Drahtseilakt: Wenn der erste Zugriff verpasst wurde, lag die Abwehr plötzlich offen. Schmidt schuf den Mythos – aber auch das Risiko, das später fast allen folgte.
Marco Rose (2017–2019): Struktur trifft Dynamik
Mit Marco Rose kam die Reife. Endlich wurde die Energie geordnet. Die Raute im Mittelfeld – das 4-1-2-1-2 – war ein Meisterzug. Plötzlich war das Zentrum kompakter, die Flügel bewusst überlassen, um Pressingfallen zu stellen.
Ich mochte diese Phase besonders, weil sie zeigte: Salzburg kann mehr als laufen. Salzburg kann denken.
In der Europa League 2018 sah man, was möglich ist, wenn Struktur und Tempo Hand in Hand gehen. Diagonale Verlagerungen ersetzten blinde Vertikalität, Gegner wurden intelligent gelenkt. Rose machte Salzburg europäisch – ohne die DNA zu verraten.
Sein Abgang schmerzte, aber er hinterließ etwas: das Gefühl, dass Salzburg mehr sein kann als nur das teuerste Team der Liga.
Jesse Marsch (2019–2021): Die Eskalation der Idee
Marsch kam als glühender Verfechter der Red-Bull-Schule. Doch statt zu verfeinern, radikalisierte er.
„Wir pressen nicht, um den Ball zu haben. Wir pressen, um Tore zu schießen.“ – das war sein Leitsatz.
Die Mannschaft agierte wie ein Schwarm: ballnah alles, ballfern nichts. Das funktionierte – bis es das nicht mehr tat.
In den besten Momenten war das überwältigend: ein Salzburg, das Gegnern den Atem nahm. In den schwächsten: ein offenes Spiel ohne Kontrolle. Ich war oft hin- und hergerissen zwischen Begeisterung und Kopfschütteln.
Marsch verkörperte die Ideologie pur – aber auch ihre Grenzen. Der Fußball war schön, aber gefährlich.
Er zeigte, dass selbst eine klare Idee irgendwann an ihre physische und mentale Grenze stößt.
Matthias Jaissle (2021–2023): Ordnung, Stabilität – und Stillstand
Mit Jaissle kam die Struktur zurück, aber die Seele ging ein Stück weit verloren.
Jaissle war kein Revolutionär, sondern ein Verwalter der Idee. Er tat vieles richtig – er führte Salzburg in die Champions League, brachte defensive Stabilität und taktische Balance.
Aber: Die Mannschaft wirkte zu oft kontrolliert, fast gehemmt. Der Mut, der Salzburg einst ausgezeichnet hatte, war nur noch punktuell zu sehen.
Ich erinnere mich an Phasen, in denen das Pressing zu berechenbar war, das Umschalten zu zögerlich, der Hunger nach Risiko fehlte.
Sein plötzlicher Abgang zu Al-Ahli war dann nicht nur ein sportlicher, sondern ein symbolischer Bruch. Mit ihm verschwand die letzte Spur einer Linie, die Rangnick und Schmidt einst gezeichnet hatten.
Jaissle war solide – aber nie inspirierend. Und Salzburg braucht mehr als Solidität.
Das Machtvakuum und der Kontrollverlust (2023–2024)
Nach Jaissle begann das, was viele Fans als Identitätskrise bezeichneten.
Der Abgang von Sportdirektor Christoph Freund riss ein Loch in das System – nicht nur sportlich, sondern kulturell. Freund war die Kontinuität im Hintergrund, der Architekt, der wusste, wie Salzburg funktionieren muss.
Sein Nachfolger, „Berni“ Seonbuchner scheiterte leider an allen Ecken und Enden..
Pepijn Lijnders: Der Systembruch
Dann kam Pepijn Lijnders – mit großen Worten, Liverpool-Erfahrung und der Idee, Salzburg „neu zu denken“.
Das Problem: Salzburg braucht kein neues Denken. Salzburg braucht klares Denken.
Lijnders versuchte, ein 4-3-3 à la Klopp zu installieren, doch der Kader war dafür nicht gemacht. Die Außenverteidiger passten nicht, die Zentrale war überfordert, das Pressing fiel auseinander.
Dazu kamen fragwürdige Personalentscheidungen – etwa die Degradierung von Alexander Schlager, die sofort Unruhe brachte.
Das Ergebnis: der bis dahin schlechteste Punkteschnitt eines Salzburg-Trainers seit der Red-Bull-Übernahme.
Lijnders scheiterte, weil er Salzburg in eine Form pressen wollte, die nicht zu seiner DNA passte. Und das Experiment kostete wertvolle Monate, Vertrauen und Identität.
Thomas Letsch (seit Ende 2024): Rückkehr ohne Aufbruch
Als Letsch kam, war klar: Jetzt muss Ruhe rein. Doch Ruhe ist kein Konzept.
Ich gebe zu – anfangs hoffte ich auf einen Reset im besten Sinn: weg vom Chaos, hin zur Klarheit. Aber was folgte, war eher Stillstand im Übergang.
Letsch setzte wieder auf ein 4-4-2 / 4-2-2-2, sprach von Intensität, von Basics. Doch das, was auf dem Platz folgte, war blass.
Auf den glücklosen Sport-Chef Seonbuchner folgte Rouven Schröder. Schröder kam mit großen Worten – und wurde ein Opfer derselben.
Was danach kam, fühlte sich an wie ein Sammelsurium aus Schnelllösungen: Transfers ohne klares Profil und eine Kommunikation, die den Eindruck vermittelte, man handle aus Reflex, nicht aus Überzeugung.
Die Fans spürten das früh. Viele sagten schon bei der Vorstellung: „Mit diesem Duo – Schröder und Letsch – wird das kein Spaß.“
Und leider sollten sie recht behalten.
Der aktuelle Punkteschnitt von Thomas Letsch – 1,56 über alle Bewerbe – unterstreicht das. Nur beim FC Liefering (1,63) und bei Vitesse Arnheim (1,61) war er leicht besser. Das ist Durchschnitt, nicht Aufbruch.
Und Durchschnitt reicht in Salzburg nicht. Nicht bei diesen Ansprüchen, nicht bei diesem Erbe.
Was mich am meisten stört: die emotionale Distanz. Letsch spricht über „Kompaktheit“, „Prozesse“ und „Stabilisierung“ – aber selten über Mut, Leidenschaft, Aggression. Das Vokabular ist anders geworden.
Natürlich, er hat einen schwierigen Kader übernommen – zusammengestellt von Schröder, dessen Transferpolitik in dieser Phase schlicht konzeptlos wirkte.
Spieler kamen und gingen, ohne erkennbaren roten Faden. Man kaufte Namen statt Profile, Hoffnung statt Passung.
Das Resultat ist eine Mannschaft, die im Niemandsland zwischen alten Tugenden und neuen Ideen feststeckt.
Als Fan erkenne ich Salzburg kaum wieder. Ja, es gibt Momente, in denen man denkt: „Jetzt!“ – ein aggressiver Pressingmoment, ein direkter Ballgewinn, eine vertikale Sequenz. Doch sie bleiben isoliert, lose Fetzen eines früheren Systems.
Letsch ist kein schlechter Trainer – aber er ist auch keiner, der eine verunsicherte Mannschaft neu definieren kann.
Er ist bemüht, aber nicht prägend. Und das ist in Salzburg schlicht zu wenig.
Das System wankt
Wenn ich die letzten zwölf Jahre betrachte, sehe ich keinen linearen Verlauf, sondern eine Sinuskurve.
Aufstieg – Stabilität – Höhepunkt – Verflachung.
Das Problem ist nicht, dass Salzburg Fehler macht. Das Problem ist, dass man sie wiederholt.
Man holt Trainer, die nicht zur Philosophie passen. Man verpflichtet Spieler ohne Systemgedanken. Man verliert Führungskräfte und ersetzt sie mit Funktionären.
Rouven Schröder kam mit dem Anspruch, Salzburg zu modernisieren – aber was kam, war Stillstand mit Marketing-Sprüchen.
Thomas Letsch kam mit dem Auftrag, die DNA zu reaktivieren – aber bisher wirkt es, als würde er sie museal konservieren statt neu beleben.
Der FC Red Bull Salzburg steht an einem Scheideweg.
Zwischen Erinnerung und Zukunft. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Zwischen Philosophie und Pragmatismus.
Wenn sich in den kommenden Monaten nichts ändert – strukturell, sportlich, personell – dann droht Salzburg nicht den Absturz, sondern das, was für diesen Klub noch schlimmer ist: Belanglosigkeit.
So darf es nicht weitergehen
Ich schreibe das nicht aus Trotz oder Gehässigkeit, sondern aus Sorge.
Salzburg war immer mehr als ein Verein – es war ein Projekt, das für Tempo, Mut und Entwicklung stand. Wenn man heute ins Stadion geht, spürt man diese Energie nur noch phasenweise.
Die Fans, die diese Ära mitgetragen haben, merken: Die DNA ist nicht ganz verloren, aber sie wird verwässert.
Der Verein braucht jetzt drei Dinge:
- Einen klaren Plan.
- Einen Trainer mit Vision.
- Und einen Sportdirektor, der nicht in Tabellen denkt, sondern in Prinzipien.
Solange das nicht passiert, bleibt Salzburg eine Kopie seiner selbst.
Und das ist, bei allem Respekt vor den Leistungen der Vergangenheit, zu wenig für einen Klub, der einmal Europas aufregendstes Fußballlabor war.


